Robert Krokowski
Selbstverständlichkeiten
Rolf-Hermann Geller zum 50. Geburtstag
Es selbstverständlich zu finden, daß einer
seinen Geburtstag - zumal einen "runden"
- nach 364 Tagen nachfeiert, ist nicht selbstverständlich.
Daß eine solche Feier auf einem Friedhof stattfindet,
scheint auch nicht üblich. Und doch befremdet
es den Teilnehmer und Gast, daß manche, denen
er davon erzählte, sich darob befremdet zeigen.
Nun, es war selbstverständlich nicht irgendeine
Familienfeier, es war die Inszenierung einer solchen
durch den Maler und Grafiker, Hochschullehrer und Aktionskünstler
Rolf-Hermann Geller. Was diese Inszenierung aber so
selbstverständlich machte, das war die Erfahrung,
daß alltägliche ästhetische Praxis
möglich ist. Inszenierung des Familiären?
Familiäre Inszenierung? Fragen, die sich nicht
stellten. Sie stellen sich erst nachträglich,
nachdem Erzählungen - wie man halt von einer Feier
erzählt - Befremden hervorgerufen hatten.
Auf einem Friedhof? Eine Geburtstagsnachfeier? 364 Tage
... ? Der Erzähler stockt. Sollte er in Hannover
das Befremdende übersehen haben, daß sich
in Blicken und Nachfragen zeigt? Nein, spürt er
schulterzuckend. Eigentlich hat in Hannover nichts
Ungewöhnliches stattgefunden. Es war ein sehr
angenehmer Sonntag. Abgesehen vielleicht von der erzwungenen
Rückfahrt nach Berlin. Durchaus. Oder? Und der
Erzähler merkt, daß er das Befremden nicht
teilt. War doch alles ganz selbstverständlich.
Ach so, denkt er: Im Rahmen der Gellerschen Inszenierungen,
selbstverständlich ...
Die Teilnahme an Aktionen des Freundes scheint also
selbstverständlich. Vielleicht darf man nicht
Freund und nicht Wahlverwandter sein, damit Aktionskunst
ihr Befremdendes behält? Vielleicht muß
man Familienmitglied oder Fremder sein, um sich herausgefordert
zu fühlen. Gut, denkt sich der Erzähler,
aber verliert die Inszenierung für den Freund
und Wahlverwandten dann nicht ihre künstlerische
Dimension?
Er schüttelt innerlich den Kopf. Nein. Eigentlich
ist es umgekehrt. Endlich ein Familienfest, das nicht
befremdet. Das den Eindruck vermittelt, das Feiern
von Familienfesten könnte eine Selbstverständlichkeit
sein.
Der Geller, das ist schon ein "irrer Typ"
- teilt man dem Erzähler kopfschüttelnd mit.
Und er erinnert sich, daß auch der beim Fest
anwesende Vater und Bruder den Eindruck eines verkörperten
Kopfschüttelns machten. Naja, sagt er sich, die
weißen Schafe der Familie kommen eben bei manchen
Familienfesten nicht ganz ungeschoren davon. Zum Beispiel,
wenn Freunden die Plätze im Familiengrab angeboten
werden, die noch frei sind.
Aber auch das verkörperte Kopfschütteln der
Familienmitglieder scheint dem Erzähler durchaus
selbstverständlich und nicht weiter befremdend.
Spielen sie in der Inszenierung doch am ihnen zustehenden
Platz die selbstgewählte Rolle aufgestellter Statuen.
Selbstverständlich auch, daß der Sohn, auf
dem Friedhof herumtollend, den Puck spielt.; und die
Gattin vor dem Grab Anna Blumes den Sektkelch wie eine
Rose hält, leicht fröstelnd, wie es die Witterung
in Kombination mit dem hübschen Kleid gebietet;
und Rolf-Hermann Geller am Grab Kurt Schwitters die
Inschrift des Grabsteines vorliest: "Man kann
ja nie wissen ..."
Was also befremdet daran, daß ein Künstler
in der Tradition des Bauhauses ebenso steht, wie in
der von DADA? Ist es nicht selbstverständlich?
Kann es anders sein - wenn der Künstler in seinen
Aktionen die Bemerkungen Beuys' darüber, was Kunst
und Künstler ausmachen, als Selbstverständlichkeiten
nimmt?
Was sich also auf dem Rasen hinter der Großen
Haupthalle des Engesohder-Friedhofes in Hannover am
12. Mai 1996 abspielt, zwischen dem Grab Anna Blumes
und dem Grab Schwitters, unweit des Gellerschen Familiengrabes,
in dem natürlich der Komponist Ritzau seine letzte
Ruhestätte schon gefunden hat, unweit auch des
Gellerschen Geburtshauses, das fast nur einen Steinwurf
vom Friedhof entfernt liegt, was sich also hier auf
der grünen Wiese abspielt, im Quadrat zwischen
den vier mit Rotwein vollgesogenen Rosen, das ist Dada
cool, und es wirft die Honigpumpe des Teilnehmers an
- und offenbar die der Befremdeten nicht weniger. Ist
es nicht eine Kunst, bei all dem aus einem Familienfest
keine klebrige Angelegenheit zu machen? Selbstverständlich.
Selbstverständlich spielt keine Jazzband. Auf einen
Friedhof gehört ein Choral. (Man kann ja nie wissen
...) Schon, um den Komponisten in der Familie zu ehren.
Doch bevor ihn Geller anstimmt, gilt es, die Versammelten,
Familienmitglieder, Freunde und Kollegen, zusammenzuführen.
Die Regeln sind ganz einfach:
In der einen Hand halte man das Sektglas. In der anderen
ein Stück Brot. Nun breche man das Brot mit seinem
Gegenüber und proste sich zu.
Klar, denken die Anwesenden, warum nicht. Nun stehen
sie aber in jenem aus vier mit Rotwein vollgesogenen
Rosen abgesteckten Quadrat auf einem Friedhof mitten
in Hannover, mitten zwischen dem Grab Anna Blumes und
dem Grab Kurt Schwitters, mit oder ohne Krawatte und
suchen verzweifelt nach der dritten Hand. Interessante
Choreographie, denkt der Erzähler. Selbstverständlich,
daß irgendwann Gläser aus Jackentaschen
lugen und den befremdeten Friedhofsbesuchern zuzwinkern.
Ein ziemlich unspektakulärer Ablauf der Inszenierung
also. Gleichsam selbstverständlich bricht die
Gesellschaft zum Familiengrab auf, selbstverständlich
hat der Galerist des Künstlers an dessen outfit
herumzumäkeln, das ihm wenig repräsentativ
zu sein scheint. Geller nimmt es selbstverständlich
gelassen. Ein Platz im Familiengrab wird dem Galeristen
aber nicht angeboten.
Auf diesem finden die Rundgänger eine Maske. Selbstverständlich.
Und zwei ineinander verschränkte Hände. Nein,
beides selbstverständlich nicht in den Stein gehauen,
sondern als Hinzufügung Gellers, um die er sich
beim Verlassen des Familiengrabes selbstverständlich
nicht kümmert. Es wundert nicht, daß kaum
jemand sich um die besorgten Blicke von Familienmitgliedern
kümmert, von denen anzunehmen ist, daß sie
sich wünschen, hierher zurückzukehren, um
die Assemblage zu richten.
Selbstverständlich, sagt Geller, seien die Assoziationen
der Betrachter falsch, wenn sie die auf dem Grabstein
verschränkten Hände an das Emblem der ehemaligen
SED erinnern sollten ... Nein, hier reichen die Toten
den Lebenden die Hände. Muß daran erinnert
werden, daß man sich auf einem Friedhof befindet?
Selbstverständlich nicht.
Der Erzähler ergreift die Gelegenheit, den Vater
des Künstlers nach dem Künstler im Grab zu
fragen. Ja, sagt der Vater, er liegt drin.
Zeit also, den Friedhof zu verlassen. Auf dem Weg zu
einer Restauration am Maschsee führt der Weg am
Geburtshaus vorbei. So also sieht das Haus aus, in
das der Großvater, der Komponist, für den
jungen Geller wie selbstverständlich einen Privatlehrer
einquatierte, einen Maler, der zusammen mit Frau und
Töchtern eines der Zimmer bewohnte, von dem selbstverständlich
vierfünftel mit Decken als Atelier abgetrennt
waren, und in dessen fünftem Fünftel die
Frauen beim Schlafen auf ihren Matrazen im gleichen
Rhythmus zu atmen hatten, um den Künstler nicht
zu stören. Selbstverständlich herrschen zur
Zeit solche Zustände in dieser prächtigen
Villa wohl nicht mehr.
Und selbstverständlich bedauert der Erzähler,
daß er das Ende des Familienfestes nicht mehr
miterleben konnte, weil sein Zug nach Berlin ihn zum
Aufbruch zwang. Aber er ist sicher, daß jeder
der Anwesenden bei Gellers Rede, in der jeder erwähnt
worden sein soll, ein kleines Stückchen Fett wegbekam.
Und jeder der Abwesenden selbstverständlich auch.
Wie bei jedem Familienfest. Und doch ganz anders: auf
Gellersche Weise eben.