Dirk Kohn
Die Entstehung der Demokratie im klassischen Athen bis zur Zeit des Perikles
1. Einleitung
Wenn heute der Begriff Demokratie - also Volksherrschaft
- Anwendung findet, wird oft übersehen, daß
die Anfänge gut zweieinhalb Jahrtausende zurückliegen
und der Ausgangspunkt Athen war. Natürlich ist
die athenische Demokratie nicht zu vergleichen mit
den uns heute geläufigen Formen. Es war im letzten
Stadium eine direkte Demokratie, keine repräsentative.
Auch durften beispielsweise weder Frauen, Metöken
- also Zugewanderte ohne Rechte - noch Sklaven mitbestimmen.
Dennoch muß festgehalten werden, daß in
der Übergangsphase von archaischer (750-510) zu
klassischer Zeit (510-323), also zwischen Ende des
sechsten und Beginn des fünften vorchristlichen
Jahrhunderts die dominierende Stellung des Adels weitgehend
aufgelöst wurde, ein Zustand also, der im restlichen
Europa zum Teil erst in diesem Jahrhundert erreicht
wurde.
Wenn man sich diesen Umstand vor Augen führt, muß
man die Frage stellen, warum gerade in Athen solch
eine Entwicklung möglich war, warum sich die demokratische
Verfassung immerhin etwa 150 Jahre hielt und durch
welche Personen und Situationen sie getragen wurde.
Auf diesen Fragenkomplex versuche ich, im folgenden
eine Antwort zu finden.
2. Die Zeit vor dem Auftreten Solons
Staatsordnungen mit demokratischen Elementen gab es
in Griechenland bereits seit 2000 v. Chr. Aber erst
im Übergang von archaischer zu klassischer Zeit
wurde dieses Staatswesen durch eine Reihe von Reformen
ausgestaltet.
Seit den Anfängen des 7. Jahrhunderts geriet in
den meisten griechischen Staaten die Adelswelt in Bedrängnis:
Durch Übervölkerung und veränderte Kampfformen
entstanden wirtschaftliche und militärische Schwierigkeiten,
die auf die ärmere und abhängige Bevölkerung
abgewälzt wurden. Viele der Bauern waren verschuldet.
Da es möglich war, auf seinen Körper zu leihen,
konnte ein Bauer bei Zahlungsunfähigkeit vom Gläubiger
versklavt und sogar verkauft werden. Die Not schuf
eine neue Bewußtseinslage der ärmeren Bevölkerung,
die sich in mehreren Forderungen niederschlug: Neuaufteilung
des Landes bzw. Erlaß der Schulden.(1)
In der näheren Umgebung gab es Staaten, in denen
diese politischen und sozialen Spannungen in früherer
Zeit zur Tyrannis geführt hatten. Auch in Athen
wurden Versuche in diese Richtung unternommen, etwa
632, als der Adelige Kylon die labile Situation zu
einem Staatsstreich nutzte. Der Versuch mißlang;
Heuss betont:Athen war damals nicht reif für die
Tyrannis.(2) Die Landbevölkerung gehorchte noch
dem Adel und stützte dadurch die Abwehr.
Kurze Zeit später wurden aber gewisse Konzession
gemacht, 624 kam es unter Drakon zur Kodifizierung
von Teilen des bestehenden Rechts. Zu dieser Zeit waren
Hunger und die Verschuldung der Bauern zwei herausragende
Probleme. Um einen Bürgerkrieg zu verhindern,
wurde Solon 594 zum Archonten gewählt und mit
diktatorischen Vollmachten ausgestattet.
2.1. Die Situation zur Zeit Solons
2.1.1. Vorbereitung
Erst Solon begann damit, auch an die politische und
die soziale Verfassung Hand anzulegen.
Er scheint der Schöpfer der inneren Ordnung Athens
zu sein. Aber auch in seiner Person selbst wird deutlich,
daß zwar die griechische Politik niemals unter
die alleinige Herrschaft einer Autorität geriet,
ihr aber dennoch - je nach Gelegenheit - einen beträchtlichen
Einfluß einräumte.
Solon war ein Mann der Rede und des Denkens. Ihm wurde
später der Rang eines Weisen (Sophós)
zuerkannt, er studierte Homer und Hesiod, gerade letzteren
schätzte er besonders. Aufgrund seiner literarischen
Hinterlassenschaft läßt sich das Denken
Solons erschließen. Er nimmt in seinen Elegien
das damalige Athen mit all seinen Gebrechen aufs Korn.
Er macht sich nicht die vorherrschende Lethargie zu
eigen, daß alles so kommt, wie die Götter
es wollen. Er wendet sich gegen die Maßlosigkeit
des Einzelnen und sieht eine Katastrophe heraufziehen
Aufruhr, der Frevlern lieb ist, entbrennt, und die Feinde
im Innern
Knebeln mit blut`ger Gewalt plötzlich die Stadt,
die ihr liebt.
Solches Übel geht um im Volk; und Scharen Verarmter
Kommen, als Sklaven verkauft, heimatlos weit in die
Welt,
Auch ist ihr Nacken gebeugt, und das Haupt durch schmachvolle
Fesseln.(3)
Er charakterisiert den vorherrschenden Zustand als schlechte,
depravierte Ordnung, als Ungesetz (Dysnomie). Dieser
stellt er den Zustand des Wohlgesetzes gegenüber,
der Eunomie. Sie soll alle Unbill vom Volke nehmen,
den Gesetzlosen Fesseln anlegen, Gelüste beschwichtigen,
Übermut dämpfen, Aufruhr in die Knie zwingen
usw.
Von heute auf morgen konnte er für seine Ansicht
keine Resonanz finden, seine Freunde rieten ihm, den
Weg der Gewalt zu gehen, doch Solon wollte davon nichts
wissen. Er wollte, daß Staat und Gesellschaft
aus sich heraus die Kraft zur Umbildung fanden. Seine
Aufgabe war es, diesen inneren Prozeß zu steuern.
Der Umfang der Umbildung machte größere
Vorbereitungen notwendig. Heuss drückt es so aus:
Gilt es, sich über sich selbst zu erheben, dann
bedarf es einer Atmosphäre, die, von ursprünglichen
sozialen Instinkten gespeist, das Wir in das aktuelle
Empfinden rückt.(4)
Diese fand Solon in dem langen Hader mit der Nachbarstadt
Megara um den Besitz der Insel Salamis. In seinen Elegien
und Reden verstand es Solon, den Nerv der Massen zu
treffen. Aus heutiger Sicht könnte man ihn als
Populisten bezeichnen. Solon ließ keinen Zweifel
daran, daß seine Politik sich in erster Linie
an der Interessenlage der nichtprivilegierten Schichten
orientierte und daß der Preis, der zu zahlen
war, von den herrschenden Kreisen kommen mußte.
Im Jahre 594 wurde er zum Archon mit außerordentlichen
Vollmachten gewählt. Er war, wie keiner vor ihm,
unbeschränkter Gesetzgeber. Während etwa
Drakon zum größten Teil lediglich Gewohnheiten
in fixierte Satzung umwandelte, war Solon in umfassender
Weise auch gestaltend, was in seinen Reformen zum Ausdruck
kommt.
2.1.2. Die Solonischen Reformen
1) Da er in den sozial-wirtschaftlichen Spannungen ein
enorm revolutionäres Potential erkannte, lag sein
Hauptaugenmerk auf deren Beseitigung. Solon hob das
Guthaben der Reichen auf, die Armen gewannen ihr altes
Eigentum ungeschmälert, also ohne die auf ihm
liegenden Pfandsteine, zurück. Zusätzlich
zu dieser berühmten Schuldenabschüttelung
(seisáchteia) schränkte ein weiteres Gesetz
jeglichen Bodenerwerb auf ein bestimmtes Maß
ein. Die in die Fremde verkauften Athener wurden zurückgekauft
und die Schuldknechtschaft der noch in Attika lebenden
gelöst.
2) Die Freiheit wurde zum Bürgerrecht, das Eigentum
wurde nicht angetastet und politische Rechte und Pflichten
waren künftig nicht mehr an die Herkunft, d.h.
an die Zugehörigkeit zum Adel, sondern an das
Vermögen geknüpft. Hierzu wurden die Bürger
Athens neu in vier Klassen (Tele) eingeteilt. Es wurden
folgende Besitzklassen gebildet: Pintakosiomedimnoi
(Fünfhundertscheffler), Hippeis (Reiter/reiche
Grundbesitzer), Zeugiten (Hopliten(also Schwerbewaffnete)/mittlere
Bauern und Handwerker) und Theten (Leichtbewaffnete/kleine
Bauern und Handwerker, Lohnarbeiter). Als leitendes
politisches System setzte er somit die timokratia (Herrschaft
aufgrund von Zensus) durch, also die rein ökonomische
Basierung der politischen Rechte. De facto wurde zwar
mit den höchsten Rechten fast der alte Kreis bedacht,
aber das Rittertum Kraft Geburt wurde abgeschafft und
damit grundsätzlich jedem, auch dem Nichtadligen,
die Möglichkeit gegeben, in diese Gruppe aufzusteigen.
Die obersten Ämter (Archonten und Finanzverwalter)
waren zwar noch den Fünfhundertschefflern vorbehalten,
die übrigen aber standen auch den beiden anderen
Klassen offen. Das neue Prinzip konnte leicht durchgesetzt
werden. Da zu den wirtschaftlich starken Schichten
in der Hauptsache der Geburtsadel gehörte, änderte
sich zunächst recht wenig in der Verteilung der
Macht. Während das passive Wahlrecht auf Bürger
mit Vermögen begrenzt war, waren im Wahlkörper,
also der Volksversammlung, wohl auch die Theten vertreten.
3) Der Schutz der Schwachen wurde durch die Popularklage
im öffentlichen und privaten Strafrecht gewährleistet.
Besonderheit war, daß jeder Bürger Anzeige
erstatten konnte, auch wenn er nicht betroffen war.
Solon führte dadurch gleichsam den Staatsanwalt
ein. Die Durchsetzung des Rechts und der Gerechtigkeit
wurde so als Sache aller Athener hingestellt und das
Interesse der Athener mit dem Staatsinteresse gleichgesetzt.
Zudem war die Einführung einer Berufungsinstanz
gegen den Spruch des (auch jetzt noch immer) adligen
(Schieds-)Richters von großem Gewicht.
4) Solon war es vorallem auch um die Bauernschaft bestellt.
Durch die sog, Hoplitentechnik wurde die Militärpflicht
auf die nichtadligen Athener ausgedehnt, so daß
neben die adligen Ritter das mittlere Bauerntum unter
der Bezeichnung Zeugiten trat. Neben diesen Vollmilitärpflichtigen
standen die Theten, Leute ohne ordentlichen Grundbesitz,
also Proletarier. Dadurch, daß der Krieg nun
auf Gleichheit ausgerichtet war, führte dazu,
daß das Bewußtsein von der politischen
Einheit und Verantwortlichkeit gestärkt wurde.
Die Athener waren plötzlich eine Masse. (5)
5) Viel gewichtiger für die Zukunft war die Verdrängung
des Adelsrates (areopag) aus dem Zentrum der Politik.
Nicht nur, daß die Archonten nicht mehr dem Adel
angehören mußten, sondern er wurde durch
die Bildung der sog. Volksversammlung (ekklesia) mit
einem jährlich wechselnden Rates der 400 (boulé;
100 pro Phyle) an der Spitze, die die Beamten wählte,
Beschlüsse faßte und Urteile fällte,
weitgehend entmachtet. Zudem wurden dem Volk neue Einflußmöglichkeiten
durch die Schaffung des Volksgerichts (heliaia) gegeben.
Es wurde ein Einspruchsrecht gegen Schiedssprüche
der Archonten (6) eingerichtet.
6) Ob das aktive Wahlrecht für alle drei Klassen
bereits gleich war, ist umstritten.
Nach dem Ende seiner Amtstätigkeit soll sich Solon zehn Jahre auf Reisen begeben haben und lebte dann bis zu seinem Tode (559?) in Athen.
2.1.3. Historische Einordnung
Auch wenn die Solonischen Reformen Athens Verfassung noch nicht die unveränderliche Gestalt gaben, die als endgültige Grundlage seines Aufstiegs anzusehen sind, so waren sie gewiß mehr als ein Ausgangspunkt.
Der Weg mußte jetzt nicht zwangsläufig schon
bis zur klassischen Demokratie führen, aber eine
wichtige Weiche war gestellt. Dennoch: Heuss weißt
auf folgendes hin: Solon freilich ist dafür nicht
eigentlich verantwortlich zu machen. Nach unserer Kenntnis
ist es in der griechischen Welt überall so zugegangen,
auch da, wo das spätere attische Verfassungsideal
nicht erreicht wurde. Offenbar lag hier von einem bestimmten
Zeitpunkt an ein unvermeidlicher Trend, dem sich bezeichnenderweise
nur Sparta zu entziehen vermochte. Wir wissen auch
zufällig von einem Beispiel, das kurze Zeit vor
Solon liegt (Chios), so daß die Unwahrscheinlichkeit
seiner Originalität noch ausdrücklich bestätigt
wird. (7)
Bis Solon hatte der Mensch das Gesetz als eine über
ihm stehende Instanz anzuerkennen. Nun sollte die politische
Ordnung vom Willen getragen werden und die Gesetze
durch persönliches Handeln dazu gemacht werden.
Viele Materien erblickten erst bei Solon als Recht
des attischen Staates das Licht der Welt (z.B. Erbrecht),
erst durch Solon entstand so etwas wie Staat oder Staatlichkeit.
Solon verhinderte von Anfang an ein Aufeinanderprallen
der Gegensätze. Zudem war das Adelsregime in Griechenland
nicht stark genug, um einen solchen Druck wie etwa
in Rom oder im europäischen Mittelalter auszuüben.
Das Klagerecht und die Klagepflicht jedes einzelnen
Individuums zeigt Solons Auffassung von einer öffentlichen
Gewalt, die allen zugänglich ist und jeden zum
potentiellen Träger politischer Macht und staatlicher
Aufgaben macht. Durch diese Umwandlung in ein Gemeinwesen
machte die neue Ordnung die Individuen zu Bürgern.
Durch diese Umwandlung entstand der Staat der Bürger
oder, griechisch, die Polis der Politen. Solon wollte
das unpolitische Volk nach dem Bild der bis dahin herrschenden
Schicht formen. Im Gegensatz zum spartanischen Kasernenstaat
stand die Vereinigungsfreiheit aufgrund der Solonischen
Gesetze.
Trotz aller Reformen lag Solon lediglich die Versöhnung
der zerstrittenen Gruppen am Herzen. Gleichheit war
ihm, nach seinem ausdrücklichen Zeugnis kein politischer
Wert, sondern eher ein Greuel.(8) Die gesamte Gesetzgebung
Solons ist getragen von der Vorstellung der politischen
Verantwortung des einzelnen für die Stadt. Gleichzeitig
war die Ordnung verfügbar geworden.
Die Athener der entwickelten Demokratie sahen in Solon
den Begründer des demokratischen Gedankens. In
Zeiten, die den Anfängen noch näher standen,
wurde - wohl realistischer - in Kleisthenes der Begründer
der neuen Ordnung erkannt.(9) Denn, trotz aller Reformen,
welche Solon einführte, sein Werk enthält
keinen einzigen jener Grundsätze, auf denen die
spätere Demokratie fußte, v.a. nicht den
Gedanken der Gleichheit des politischen Rechts, nicht
die Ausschaltung des Gruppeninteresses, nicht die Auflösung
der starken Regierung zugunsten der Entscheidung aller
usw.
Unter Solon wurde zwar der Herrschaft des Gesetzes zum
Durchbruch verholfen, aber Grundlage war nach wie vor
das timokratische Prinzip.
Solon erlebte die Saat nicht mehr aufgehen. Sein Zukunftsbild
konnte nur auf lange Sicht verwirklicht werden. Die
Wurzel allen Übels lag wohl darin, daß sich
das Volk in viele regionale Gruppen aufsplittern ließ.
Es entbrannte ein Konkurrenzkampf der Adligen, die
den Gang der Dinge sabotierten. Dies mußte zwangsläufig
zur Tyrannis führen.
2.2. Die Tyrannis unter Peisistratos
Gemessen an dem Ziel der innenpolitischen Konsolidierung
Athens sind Solons Reformen gescheitert.
Die konservativen Adligen, die noch dem alten Zustand
anhingen, hielten sich an Lykurg. Megakles berief sich
auf die Solonische Vermittlungspolitik und sammelte
das Bauerntum der großen Küstenebene hinter
sich, das arme Kleinbauerntum hielt sich an Peisistratos
und hatten von Solon noch mehr erwartet.
Peisistratos errang 561 zunächst die Macht, verlor
sie aber 556 bereits wieder, weil sich seine beiden,
zuvor verfeindeten, Rivalen plötzlich zusammenschlossen.
Nach einem zweiten Zwischenspiel brachte erst der dritte
Anlauf die eigentliche Herrschaft im Jahre 546. Diesmal
wurde Athen mit Waffengewalt erobert und Peisistratos
regierte rund zwanzig Jahre bis zu seinem Tod im Jahr
527. Er bejahte durchaus bestimmte Grundgedanken der
Solonischen Politik, setzte Waffengewalt nur in Ausnahmefällen
ein und installierte in Athen eine Exekutive. Unter
ihm wuchs die wirtschaftliche Produktionskraft beträchtlich.
Nach Tyrannenart erhob er die politische Macht selbst
zu einem ökonomischen Antriebsfaktor. Solon wollte
den attischen Bürger schaffen, nun stützte
das politische Desinteresse der breiten Massen die
Tyrannis. Sie hatte sich letztlich vor allem aus den
Kämpfen adliger Gruppen heraus etabliert.
Auch wenn es sich hauptsächlich um Maßnahmen
zur Herrschaftssicherung handelte, so liegt dennoch
die historische Bedeutung der Tyrannis des Peisistratos
in der sozialen und ökonomischen Konsolidierung
Athens. Seine bedeutendsten Leistungen in innenpolitischem
Bereich waren: die offenbar gegen Reste der Adelsgerichtsbarkeit
gezielte Einsetzung von lokalen Richtern sowie die
großzügige Unterstützung der Kleinbauern
durch Darlehen. Er rührte die formale Ordnung,
wie sie Solon geschaffen hatte, nicht an; die Institutionen
und Gesetze behielten ihre Gültigkeit. Die Entmachtung
des Adels erzwang regelrecht die Bewahrung der politischen
Ordnung Solons. Das Kernstück des solonischen
Staatsgedankens, die politische Aktivität aller,
wurde jedoch beseitigt. Eine beinahe revolutionäre
Neuerung war die Einführung der Besteuerung aller
grundbesitzenden Athener.
Peisistratos ging es um die Stärkung des athenischen
Selbstbewußtseins. Hierzu dienten die, bereits
seit 566 durchgeführten Panathenäen, das
größte und ehrwürdigste Staatsfest,
sowie die Dionysien, eine Mischung aus Prozession,
musischen Darstellungen, Komödie und Tragödie.
Das persönliche Regiment des Peisistratos, das
den autonomen Gemeinwillen des Staates auf der einen
Seite ersetzte, hat gleichsam auf der Rückseite
seinen Teil dazu beigetragen, daß der politische
Verband weiterhin an Gestalt gewann und seine Substanz
sich mehrte. Die Herrschaft der beiden Söhne Hippias
und Hipparch, die Peisistratos nach dessen Tod 528
oder 527 ablösten, setzte seine Linie fort, vielleicht
waren sie in Einzelheiten sogar noch liberaler.
Nach der Ermordung Hipparchs 514 (es war ein Mißverständnis,
Hipparch sollte eigentlich nicht Opfer werden), verschlechterte
sich das politische Klima in Athen. Hippias, der sich
bedroht fühlte, schlug einen strengeren Kurs ein.
Es kam zu Verfolgungen und viele, meistens Angehörige
adliger Familien, flohen. Der Gärungsprozeß
im Innern war jedoch noch nicht so weit, die Tyrannis
war (noch) nicht gefährdet. Doch im Jahr 510 wurde
Hippias gestürzt.
Die Tyrannen führten sinnvolle Reformen durch und
sie entmachteten die anderen adligen Herrscher, weshalb
Aristoteles die Tyrannen als Wegbereiter der Demokratie
bezeichnete. Peisistratos stützte den bedrohten
Bauernstand, zentralisierte die Rechtsprechung und
führte Steuern ein. Viele Athener blickten gern
auf dieses goldene Zeitalter zurück. Die Blüte
der Stadt geht laut Bleicken somit gerade auf das Fehlen
des Politischen zurück: Die Athener waren nicht
fähig gewesen, den von Solon geschaffenen Rahmen
des Politischen in einem gemeinathenischen Sinne auszufüllen.(10)
2.3. Die Reformen des Kleisthenes
2.3.1. Der Aufstieg des Kleisthenes
Ein erster Versuch Kleisthenes`, die Tyrannis mit Waffengewalt
und Unterstützung durch die geflohene Opposition
zu stürzen, mißlang. Auch der zweite Versuch,
mit Unterstützung durch eine kleine spartanische
Freischärlergruppe, mißlang. Erst beim dritten
Anlauf, den König Kleomenes selbst führte,
wurde Athen 510 gegen freien Abzug der Peisistratiden
befreit. Damit war die innenpolitische Lage jedoch
keineswegs geklärt. Es entwickelte sich ein Machtkampf
zwischen Kleisthenes einerseits sowie Isagoras - der
eine Gruppe reaktionärer Ultras hinter sich sammelte
und hinter Solon zurückwollte - und dessen Verbündeten
Kleomenes. Kleisthenes wurde in einem offenen Bürgerkrieg
zunächst zur Flucht gezwungen, kehrte dann aber
zurück. Kleomenes und Isagoras wurden vertrieben,
zahlreiche kollaborierende Athener zum Tode verurteilt.
Die erzwungene politische Enthaltsamkeit des Adels unter
der Tyrannenherrschaft wirkte sich nun für die
Restauration der Adelsordnung ungünstig aus. 50
Jahre waren die Athener ohne den Adel ausgekommen und
im Zusammenhang mit dem erwachenden Bewußtsein
einer politischen Einheit weckte den Wunsch nach einer
politischen Organisation, in der der Adel keine Rolle
mehr spielte.
2.3.2. Phylenreform
Die neue Phylenordnung ist die erste Repräsentativverfassung
der Welt auf lokaler Ebene!
Der Grundgedanke des Kleisthenes war es, die Bürgerschaft
gegen traditionelle Führungsansprüche des
Adels immun zu machen und zwar v.a. bei den umfassenden
organischen Maßnahmen, die eigentlich als Kleisthenische
Verfassung gelten. Im Rahmen der Phylenreform wurden
die gentilizischen Phylen durch lokale Phylen ersetzt,
was Ausdruck der Bestrebung war, vom alten Adelsstaat
loszukommen.
Der Personenstand des attischen Bürgers bestimmte
sich nach der Zugehörigkeit zu einer Phratrie
und zu einer Phyle. Phylen gab es vier. Das maßgebliche
Wort in diesen Organisationen sprachen die adligen
Geschlechter, und die innere Unselbständigkeit
des Bürgers dem Adel gegenüber ging zum Teil
auf diese alte Einrichtung zurück. Kleisthenes
klammerte die Phylen nun völlig aus, indem er
das Personalregister gänzlich hiervon löste
und es auf die einzelnen Gemeinden, die Demen, stellte
(hiervon gab es 139). Die Demen verwalteten sich selbst,
bestanden in der Regel aus einer natürliche Einheit
und umfaßten meistens einige hundert Bürger.
Um den Einfluß der alten Adelsfamilien in dieser
neuen Ordnung zurückzudrängen, wurde die
Vereinigung mehrerer Demen nicht nach geschlossenen
Komplexen vorgenommen, sondern diese umgreifenden Einheiten
- sie hießen auch Phylen - setzten sich aus Demen
drei verschiedener territorialer Zonen (Trittyen) zusammen.
Die einen gehörten zum Stadtgebiet (Asty), andere
zur Küstengegend (Paralia), die dritten zum inneren
des Landes (Mesógeios). Es gab zehn solcher
Phylen, wodurch eine solche Streuung erzielt wurde,
daß dominierende lokale Einflüsse keinen
Raum finden konnten.
2.3.3. Rat der Fünfhundert und weitere Reformen
Aber Kleisthenes ging noch weiter: Jede Phyle stellte
nämlich jetzt jährlich fünfzig Ratsherren,
so daß der Solonische Rat der Vierhundert auf
Fünfhundert anwuchs (boulé). Die Aufgabe
der boulé war die Vorbereitung der Angelegenheiten
der Volksversammlung (ekklesia) und die Vorbereitung
von Beschlüssen derselben. Die zahlreichen Geschworenen,
die an der Stelle der Volksversammlung als deren Ausschuß
Rechtsentscheidungen zu fällen hatten, wurden
ebenfalls in jeweils gleicher Anzahl von den Phylen
bestimmt. Die Staatsgeschäfte leiteten weiterhin
die 9 Archonten, die jährlich aus der obersten
Gesellschaftsschicht gewählt wurden. Die Leute
für die Wahrnehmung öffentlicher Funktionen
wurden per Los bestimmt.
Jede Phyle stellte eine Hopliten-Abteilung (Taxis) von
zunächst 1.000 Mann. Es wurde eine neue Körperschaft
geformt, der strategoi, das Gremium der Strategen.
Die Strategen waren die Befehlshaber des Heeres und
der Flotte und hatten den Vorsitz im Volksgericht bei
allen militärischen Fragen. Wählbar waren
nur die Bürger der beiden oberen Klassen.
Mehrere wichtige Institutionen blieben so erhalten,
wie sie schon nach den Reformen Solons bestanden hatten:
Die Ekklesia, die Archonten sowie der Areopag.
Von der späteren Überlieferung wurde Kleisthenes
eine weitere bedeutende Neuerung zugeschrieben: das
Scherbengericht (Ostrakismos), welches erstmals für
das Jahr 487 belegt ist, also erst 20 Jahre nach der
kleisthenischen Phylenreform. Wurde die relative Mehrheit
in einem Quorum von mindestens 6.000 erreicht, mußte
derjenige, auf den die meisten Stimmen entfallen waren,
für 10 Jahre ohne Einbuße an Ansehen und
Vermögen in die Verbannung gehen.
Durch alles dies war die Verfassungspolitik Kleisthenes`
eine Fortsetzung derjenigen Solons. Doch während
Solon davon überzeugt war, der Mensch könne
aus eigener Kraft Gutes tun, wollte Kleisthenes da,
wo der Mensch versagte, ihm durch institutionelle Mechanismen
zu Hilfe kommen.
Unter Kleisthenes (509) kam es zu einer territorialen
und politischen Neuordnung, aber der Areopag behielt
weiterhin seine exekutive Macht. Die gesellschaftlichen
Bindungen des Volkes an den Adel wurden aufgelöst.
Die Bürger erhielten politisches Mitspracherecht
in den Demen und verlieh ihren Stimmen in der Volksversammlung
mehr Gewicht, weshalb sie hinter den Reformen standen.
Leitgedanke der Ordnung war die Isonomie (Gleichheit
vor den Gesetzen) , im Sinne von Gleichheit derer in
der Volksversammlung, die gemeinsam als Hopliten für
die Stadt in den Kampf zogen.
Die Motive des Kleisthenes sind nicht völlig klar,
aber das Bauprinzip der Reform zeigt deutlich den Gleichheitsgedanken,
Sonderinteressen sollten ausgeschaltet werden. Herodot
sagt daher wohl nicht zu Unrecht, daß Kleisthenes
mit seiner Phylenreform die Demokratie begründete.
Exkurs: Vom Persisch-Karthagischer Angriff bis zur Gründung des Seebundes
Bei den kleinasiatischen Griechen, vor allem bei den
Ionern, nahmen die Aristokraten gegenüber der
des längeren vordringenden demokratischen Welle
eine Rückzugsstellung ein.
Ursprung der Begeisterung der kleinasiatischen Griechen
war das Aufbegehren gegen die Klassenherrschaft der
Tyrannen. Aristagoras konnte zwar Sparta nicht zur
Unterstützung bewegen, dafür aber Athen,
welches Jahre zuvor die Tyrannis beseitigt hatte. Nach
einigen Anfangserfolgen mußten sich die Griechen
überall wieder zurückziehen und nach der
Seeschlacht bei Lade (495) kam es zum endgültigen
Zusammenbruch des Ionischen Aufstandes. Dareios aber
wollte die Niederwerfung des Aufstandes mit der Unterwerfung
des griechischen Festlandes krönen. Auf die konservativen
Kreise Mittelgriechenlands konnte er sich dabei verlassen,
hätten diese doch nichts gegen eine persische
Herrschaft einzuwenden gehabt, die ihnen die demokratische
Bewegung vom Leibe hielt. Mit der Katastrophe von Milet
(494) trat ein Einzelgänger hervor: Themistokles,
selbstverständlich auch ein Adliger, der 493 Archont
wurde. Letztlich unterlag er aber einem gesammelten
Angriff der Aristokraten, die sich mit der demokratischen
Entwicklung Athens noch nicht ausgesöhnt hatten
und die außenpolitische Seite dieses Kurses,
also einen strikten Antipersismus, ablehnten.
Die verhängnisvolle Wendung unterblieb, weil ein
Mann, dem die Konservativen ihren Sieg verdankten,
von Grund auf anders dachte und diese Sicht auch durchzusetzen
verstand: Miltiades. Obgleich selbst Tyrann, beteiligte
er sich am Ionischen Aufstand. Bei Marathon schlug
er die Perser in die Flucht, die bei verhältnismäßig
geringen Verlusten entkamen. Die Perser gaben sich
jedoch nicht so leicht geschlagen. Nach dem Tod des
Dareios (485) trat der älteste Sohn seiner zweiten
Frau, Xerxes, die Nachfolge an. Dieser sah die Gelegenheit,
dem Weltherrschaftsanspruch seiner großen Vorgänger
die letzte Verwirklichung zu verschaffen.
In Sparta und Athen machte sich derweil der Eindruck
breit, die äußere Gefahr definitiv losgeworden
zu sein. Der Marathonsieger Miltiades wurde gestürzt,
nachdem ein Freibeuterunternehmen gegen die Insel Paros
fehlgeschlagen war. Kurz darauf starb er an seinen
hierbei erlittenen Verletrzungen. Sein Sohn Kimon mußte
die gigantische Buße von fünfzug Talenten
bezahlen. Die Alkmaioniden gelangten wieder an die
Macht und trieben die demokratische Entwicklung des
attischen Staates ein erhebliches Stück voran.
Der von Kleisthenes für viele andere Ämter
eingeführte Grundsatz der absoluten Gleichheit
der Chance aufgrund des Loses sollte auch für
das Archontat gelten. Athen besaß nun keine formelle
Zuständigkeit mehr für das Regieren und es
kam jetzt im Grunde darauf an, wer sich als Volksführer
(Demagoge) in der Volksversammlung durchsetzte, allein
gestützt auf sein Ansehen und seine Anziehungskraft,
also auf die Qualität, welche die moderne Soziologie
als Charisma bezeichnet.
Wahrscheinlich im selben Jahr wurde der sogenannte Ostrakismos
(das Scherbengericht) eingeführt: Wenn sich mindestens
6.000 Stimmen auf einen Namen einigten, so war der
Betreffende ostrakisiert und mußte für zehn
Jahre ohne Schmälerung seines Vermögens und
seiner Ehrenrechte außer Landes gehen. Diese
negative Abstimmung bescheinigte ihm, daß er
der aussichtsreichste Rivale des zur Zeit maßgebenden
Demagogen war und diesem für längere Zeit
durch seine Abwesenheit die Bahn freigeben mußte.
Die Alkmaioniden, die diesen Mechanismus erfunden hatten,
wurden Opfer desselben und befanden sich in den Jahren
der großen Entscheidung nicht auf der politischen
Bühne.
Auf die Auseinandersetzung mit den Persern waren die
Griechen diesmal besser vorbereitet: Sparta brachte
das Gros des Peloponnesischen Bundes hinter sich und
Athen ordnete seine inneren Kräfte, vor allem
indem die politische Leitung in die Hände des
Themistokles fiel. Er ließ innerhalb kürzester
Zeit eine Flotte bauen und sie von Theten rudern. Diesmal
kam es auch zu einer engen Verflechtung zwischen Sparta
und Athen in der sog. Eidgenossenschaft gegen Persien.
Der Feldzug des Xerxes (480) verlief zunächst zum
Nachteil der Griechen, Mittelgriechenland wurde verloren,
Delphi geriet in persische Hände, Athen mußte
sogar zwischenzeitlich evakuiert werden, die Perser
schlugen dort ihr Hauptquartier auf. Xerxes wollte
nun auch möglichst schnell die athenische Flotte
besiegen, bevor sie fliehen konnten. Diese lag vor
der Küste bei der Insel Salamis. Da die Griechen
den Persern nicht den Gefallen taten, aus ihrer Bucht
herauszukommen, sperrten die Perser diese ab. Hierbei
wurde die persische Flotte eingekeilt und schwer geschlagen.
Xerxes brach das ganze Unternehmen ab und wollte im
darauffolgenden Jahr Griechenland mit einer wiederhergestellten
großen Flotte erneut angreifen.
Die Athener gaben nun ihren Defätismus auf und
begannen das neue Jahr mit einer energischen Offensive.
Der erste Vorstoß erfolgte unter Leitung des
Spartaners Pausanias noch ehe die Abwehrmauer der Perser
fertig war. Im Hochsommer 479 kam es zur Schlacht bei
Plataiai in Boiotien, die zur totalen Niederlage der
Perser führte. Auch den Seekrieg gaben die Perser
auf und rüsteten die Flotte ab. Für die Griechen
war der Seekrieg damit jedoch noch nicht zu Ende.
Während des Perserkrieges hatten sich die Griechen
Siziliens eines Angriffs der Karthager zu erwehren.
Letztere wurden in der Schlacht an der Himera (ebenfalls
480) vernichtend geschlagen. Der Sieger Gelon und -
zwei Jahre später - sein Nachfolger und Bruder
Hieron führten eine Tyrannenherrschaft alten Stils,
die sie in bewußt konservativem Licht darstellten.
Gegen den Wind demokratischer Denkart war diese Atmosphäre
abgedichtet. Es dauerte noch bis zum Ende der sechziger
Jahre, bis die politische Bühne die Szenerie wechselte.
Es war wirklich nicht alles ein Ruhmesblatt, was sich
damals auf griechischer Seite zugetragen hat. Zweifellos
war ungeheuer viel Glück dabei oder, wie die Griechen
einer späteren Epoche sich ausdrückten, Werk
der Tyche, des Zufalls.(11) Es ist aber auch historische
Wahrheit, daß Griechenland als Ganzes sich niemals
in seiner Geschichte, weder vorher noch nachher, zu
einer vergleichbaren Höhe gemeinsamer politischer
Anstrengungen erhoben hat. Marathon und Salamis hatten
entscheidenden Einfluß. Wie weit dieser reichte,
hat einmal der Engländer John Stuart Mill ausgedrückt:
Die Schlacht von Marathon ist selbst als ein Ereignis
der englischen Geschichte wichtiger als die Schlacht
bei Hastings.(12)
Doch es herrscht unter den Historikern Uneinigkeit darüber,
wie es mit den Griechen weitergegangen wäre, wenn
die Perser gewonnen hätten. Die Entscheidung im
Krieg gegen die Perser bewahrte aber Griechenland nicht
nur vor dem Zusammenbruch seiner bisherigen Geschichte,
sie legte auch einen neuen Keim für die Zukunft.
Erst die Politik des Themistokles hatte Athen zu einer
Seemacht werden lassen. Er stand auch später in
sehr hohem Ansehen bei den Athenern, seine Schlauheit
bzw. Gerissenheit schlug sich in unzähligen Legenden
nieder. Seit 479 trat er schon nicht mehr offiziell
in einer amtlichen Stellung auf, aber sein Einfluß
auf die attische Politik war damit nicht ausgeschaltet.
Der Delisch-Attische Seebund wurde im Frühjahr
477 gegründet und umfaßte letztlich 200
Mitglieder. Alle Beteiligten hatten einen Bundesbeitrag
in Form eines Schiffskontingentes zu stellen oder aber
einen Geldbetrag, den Tribut, zu entrichten. Der Zweck
des Bundes war der Kampf gegen die Perser. Er sollte
die kleinasiatischen Griechen befreien und gegen die
Revanche der Perser schützen. Viel zu tun gab
es nicht. Lediglich in Thrakien konnte sich der athenische
Feldherr Kimon, der Sohn des Miltiades, in der Mitte
der siebziger Jahre kriegerische Lorbeeren holen. Athen
war der Kopf des Bundes, die attische Flotte wurde
enorm vergrößert, der Piräushafen gewaltig
ausgebaut.
Innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren war so aus
Athen eine Großmacht geworden.
2.4. Das demokratische Moratorium unter Kimon
Ab 478/7 war Kimon der wichtigste Stratege. Über
die Zeit bis 461 wird oftmals als das Zeitalter Kimons
gesprochen, jedoch gab er der Politik keinen eigenen
Impuls, sondern führte einfach fort, was angelaufen
war.
Da innenpolitisch alles gutging, genoß Kimon großes
Ansehen. Was der Areopag vorschlug, wurde in der Volksversammlung
abgesegnet. Die Hopliten und Theten, die mit ihm ausfuhren,
wurden an der Beute beteiligt und damit ruhiggestellt.
In den siebziger Jahren wuchsen dem alten Adelsrat neue
bedeutende Funktionen zu. Hier v.a. wurde die komplizierte
Materie der attischen Außenpolitik - quasi hinter
verschlossenen Türen - diskutiert, was einem Rückschlag
für die Demokratie gleichkam!
Meier weist darauf hin, daß die Stellung, die
der Areopag gegenüber den Fünfhundert und
der Volksversammlung einnahm, die Form der Autorität
(axioma) hatte.(13) Kimon stützte sich auf den
Areopag und da er als Feldherr auch beim breiten Volk
angesehen war, führte dies zu einer gewissen Harmonie.
Bleicken bezweifelt, ob man die knapp zwei Jahrzehnte
vor 462/61 als Demokratie bezeichnen kann, auch wenn
in dieser Zeit alle wesentlichen demokratischen Elemente
verwirklicht waren. Eher kann man sie als Periode des
Übergangs ansehen, in der die Veränderungen
des Kleisthenes nur sehr allmählich wirksam wurden.
Kimon und Themistokles waren die beiden Antipoden, beide
mit ihren eigenen Stärken und Schwächen.
Doch in ihrer Einstellung zu Sparta waren die Differenzen
zu groß. Themistokles wollte sich der Anbiederung
Kimons nicht beugen und unterlag - wahrscheinlich 471
- dem Ostrakismos.
Kimon und Themistokles waren zwei grundverschiedene
Charaktere: Beide zwar aristokratischer Herkunft hatte
doch Kimon einen sehr viel größeren Reichtum
und kam aus einem der ersten Häuser der Stadt.
Kimon lag es am Herzen, andere an seinen Gütern
teilhaben zu lassen. In einem glichen sich die beiden
jedoch: Sie hatten an musischer Ausbildung nicht viel
mitbekommen. Kimon war ein beliebter Feldherr und ein
machtbewußter Politiker. Obwohl Themistokles
der bessere Redner war, folgten Volksversammlung und
Areopag Kimon. Die spätere Verurteilung des Themistokles
wurde zu einer folgenschweren Belastung der attischen
Innenpolitik.
2.5. Die Revolution des Ephialtes
462/1, während einer Abwesenheit Kimons, gingen
Ephialtes und die Seinen zum Gegenangriff gegen den
Areopag vor. Sie brachten einen Antrag ein und setzten
ihn durch, wonach dem Rat alle Funktionen außer
der Blutgerichtsbarkeit und einige religiöse Aufsichten
genommen werden sollte und sie verteilten diese auf
den Rat der Fünfhundert, die Volksversammlung
und die Volksgerichte. Jetzt war der letzte Schritt
in Richtung einer Regierung aller getan. Jeder Beamte
war während des Amtes und nach dessen Niederlegung
ununterbrochen der Aufsicht aller unterstellt. Kein
Staat nach Athen ist so mit seiner Regierung umgegangen.(14)
Kimon versuchte noch, die Entmachtung des Areopags rückgängig
zu machen. Ohne Erfolg. Nie hatte Athen einen so einschneidenden
Umsturz erlebt (Kein Vergleich zu dem der Zeit von
Kleisthenes): Das Volk sollte uneingeschränkt
herrschen. Die allein wichtigsten Organe sollten zukünftig
ein jährlich auszuwechselnder Rat von Männern
sein, daneben Volksversammlung und Volksgerichte.
Nirgends hatte es das schon einmal gegeben, daß
eine Stadt auf die politische Mitwirkung des Ratsgremiums
verzichtete. Überall wurden diese Veränderungen
zur Kenntnis genommen, denn Athen war nicht irgendeine
Stadt, sondern die Vormacht des Seebundes.
Um das Jahr 463 geschah es auch das erste Mal, daß
das Wort Volk mit dem Prädikat herrschen verbunden
wurde. Es scheint, daß damals auch der Begriff
Demokratie geprägt wurde.(15) An dem Bewußtsein
dieser Volks-Herrschaft scheint es noch gefehlt zu
haben. Bis jetzt hatte man die Vorstellung des herrschens
ganz und gar mit einzelnen Personen verbunden. Dennoch
wurde der Übergang von der Isonomie (gleiche politische
Rechte für alle Bürger) zur Demokratie (Volks-Herrschaft)
vollzogen.
Kimon versuchte, Kleisthenes` Aristokratie wiederherzustellen
(die sog Bestenherrschaft). Letztlich kam die Dynamik
Athens zum Sieg: Die Dynamik einer jüngeren Generation,
die die Perserkriege nur aus Erzählungen kannte
und die Dynamik der neuen Schicht der Theten, die,
nachdem sie einmal mobilisiert war, nur allzu bereit
sein mußte, eine neue ausgreifende Politik zu
tragen.
Nachdem es bei den Bauern Jahrhunderte gedauert hatte,
bis auf die Einführung der Phalanx die regelmäßige
Mitsprache folgte, verlief die Angleichung der politischen
Rechte an die militärischen Funktionen bei den
Theten sehr schnell. Einerseits war die Mitsprache
der breiten Schichten schon gegeben, andererseits wurden
die Theten militärisch viel stärker gebraucht.
Ab 462/1 kann man die Demokratie in Athen, in Griechenland
datieren. Sie ist vor allem durch die Auflösung
derjenigen politischen Macht bestimmt, die seit der
Adelszeit die Stadt gelenkt hatte, die der Beamten.
Schwierig ist es, für die Reformen ein Motiv zu
finden. Hatte Ephialtes überhaupt ein innenpolitisches
Programm (etwa Demokratisierung), für das er eine
günstige außenpolitische Konstellation nutzte
(Abwesenheit des Spartafreundes Kimon), oder verfolgte
er eine bestimmte Außenpolitik, zu deren Durchsetzung
er innenpolitisch aktiv wurde?
Gegen Kimon entbrannte eine offene Revolution, welche
von Ephialtes angeführt wurde. Er machte vielen
Areopagiten den Prozeß, Kimon wurde durch Ostrakisierung
bescheinigt, daß er abgewirtschaftet hatte. In
dieser vergifteten Atmosphäre wurde Ephialtes
selber Opfer eines Meuchelmörders.
Die Athener bemühten sich in den folgenden Jahrzehnten
immer wieder um die weitere Schwächung, ja Auflösung
der exekutiven Gewalt. Nach 458/57 wurde das Archontat
sogar den Zeugiten zugänglich gemacht, und sehr
bald schon waren die meisten Beamten reine Losbeamte,
wurden nur Offiziere, Finanzbeamte, Gesandte und etliche
Kulturbeamte gewählt. An die Stelle der Exekutive
rückt - v.a. unter Perikles der Volksführer
(Demagoge), der allein durch seine Autorität und
seine Argumente das Volk lenkte. Die sog. Revolution
des Ephialtes war letztlich im wesentlichen die Übertragung
der Beamtenkontrolle vom Areopag auf das Volk, nämlich
auf die Rechenschaftsverfahren. Letztere wurden nicht
nur zugleich mit der Demokratie geboren, sondern bildeten
den Auftakt, durch den die isonome Gesellschaft der
Hopliten (Isonomie) sich zur demokratischen Gesellschaft
wandelte.
Die Stellung führender Persönlichkeiten in
Athen beruhte in erster Linie auf Überzeugungskraft
und Ansehen, da es hier keine Regierung gab, die ernannt
oder gewählt worden wäre und auch keine Parteien
oder Organisationen, deren Vorsitz man hätte innehaben
können.
Vermutlich brauchte schon das isonome, vor allem dann
das demokratische Athen Persönlichkeiten, an deren
Autorität eine Mehrheit (...) in der Bürgerschaft
sich orientieren konnte; ...(16) (Aussage von Thukydides
über die Herrschaft des Perikles!)
Wer jedoch etwas anderes vorhatte, als wohin die Bürgerschaft
gerade tendierte, ist auf längere Sicht regelmäßig
gescheitert.
Exkurs: Die Situation zur Jahrhundertmitte
Parallel zur politischen Blüte erreichten Dichtung,
bildende Kunst, Architektur, Wissenschaft und Philosophie
ihren Höhepunkt. Eigenartigerweise vollzog sich
alles dies in der attischen Öffentlichkeit. Kann
man diese Kunst, diese Wissenschaft etc. als demokratisch
bezeichnen? Vieles wurde damals unter den verschiedensten
politischen Ordnungen hervorgebracht. Und doch hat
sich zumindest auf der Athener Akropolis, wohl zum
einzigen Mal in der Weltgeschichte, die Demokratie
als ein Bauherr von Kompetenz erwiesen. Und doch ist
die große Zeit der Tragödie offensichtlich
aufs engste mit der attischen Demokratie, dem attischen
Bürger-Publikum verknüpft.(17)
Die erste Einführung der Demokratie hatte jedoch
weitreichende Konsequenzen, z.B. in der Theologie und
der Tragödie, etwa bei Aischylos. Wie Meier formuliert:
eine ganz neue Balance (mußte) auch am Himmel
gewonnen werden.(18)
Durch Abschaffung des Areopags drang die Politik jetzt
wirklich in die Mitte der Bürgerschaft. Die Adligen
konnten sich mit der Situation nicht abfinden. Ob der
Mörder des Ephialtes (461) aus ihren Reihen stammte,
konnte nie geklärt werden. Noch Jahre später
verdächtigte man die Adligen, mit den Spartanern
zu konspirieren, um die Demokratie zu stürzen.
457 wurde in Athen ein Gesetz erlassen, wonach auch
Angehörige der dritten Zensusklasse, der Zeugiten,
das oberste Amt, das Archontat, bekleiden durften.
Kurz nach 461 begann man zudem damit, Volksbeschlüsse,
Abrechnungen, Dokumente verschiedener Art auf Stein
zu schreiben und aufzustellen. Zur Demokratie gehörte
auch die Möglichkeit, sich umfassend über
alles zu orientieren.
Irgendwann in diesen Jahren müssen auch die Diäten
eingeführt worden sein, zunächst nur für
den Rat der Fünfhundert, dann aber nach und nach
für die verschiedenen Ämter. Eine bedeutende
Rolle in diesem Zusammenhang spielte der Richtersold.
Die Einführung der Diäten soll auf Perikles
zurückgehen. Auf die Dauer stellte der Geschworenendienst
neben dem militärischen die wichtigste öffentliche
Funktion des Durchschnittsbürgers dar.(19)
Es wurden auch verschiedene neue Ämter eingerichtet,
manche davon zehnfach besetzt. Das Prinzip war womöglich,
daß eine breite Beteiligung an Ehren und Aufträgen
die Demokratie schmackhaft machen und die Amtsinhaber
sich wichtig vorkommen lassen sollte, damit sich Athen
besser regieren ließe,
Zwei Jahre vor dem sog. Kalliasfrieden, 451, wurde das
Bürgerrechtsgesetz des Perikles beschlossen: athenischer
Bürger sollte künftig nur sein, wer beiderseits
von Athenern abstammte. Worin die Motive für dieses
Gesetz lagen, ist nicht genau rekonstruierbar, aber
die Demokratie schien auf die Homogenität der
Bürgerschaft angewiesen zu sein. Gleichzeitig
war man in Athen keinesfalls fremdenfeindlich. Die
Metöken konnten vor allem in Athen völlig
unangefochten und unangefeindet ihren Geschäften
nachgehen.
Im Verhältnis zu den übrigen Seebundsmitgliedern
verhielt sich Athen nicht ganz so demokratisch: u.a.
wurden Seebundsgelder zur Verschönerung der Akropolis
verwandt. Laut Thukydides erklärte Perikles später,
Athen übe eine Tyrannis aus. Nur im Inneren gelang
es, eine stärkere Kooperation zu ermöglichen,
nach außen sollte Athen seine Macht demonstrieren,
möglichst autark sein und auf Verfügung statt
auf langfristige partnerschaftliche Zusammenarbeit
setzen.
Auch hatten sich moderne Humanitätsvorstellungen
noch nicht entwickelt. Es gab Versklavung, blutige
Kriege und Massenhinrichtungen, Menschen waren verkäuflich.
Griechische Größe im Politischen, v.a. im
Falle Athens, erschöpfte sich im Innern der Städte,
nur Sparta verstand sich, freilich auf aristokratischer
Basis, auf das Flechten weiter, stabiler Beziehungsnetze.
446 wurde ein dreißigjähriger Friede mit
Sparta abgeschlossen. Die ausgreifende Kriegführung
war fehlgeschlagen. Bis auf Ägina war alles verloren,
worum Athen seit 460 auf dem griechischen Festland
gerungen hatte.
Athen richtete zuweilen in verbündeten Städten
Demokratien ein und schickte Mitglieder der alten Oligarchien
in die Verbannung. Jedoch war Demokratie keine Sache
der Mission, sondern der Herrschaftssicherung!
2.6. Das Perikleische Zeitalter und die Ausbildung der radikalen Demokratie
2.6.1. Der Aufstieg des Perikles
Wenn je eine Gesellschaft sich im Aufbruch befand, dann
war es Athen in der Mitte des 5. Vorchristlichen Jhdts.
Und das Charisma des Perikles bestand in der Bändigung
und Kanalisierung dieser Wucht. Als Angehöriger
des adligen Geschlechts wurde er etwa um 495 geboren.
Die demokratische Tradition kam von seinen Vorfahren
mütterlicherseits: Die Mutter war eine Nichte
des berühmten Kleisthenes. Als Perikles in die
aktive Politik eintrat, war er vierzig Jahre alt.
Mit dem Bürgerrechtsgesetz 451 tritt Perikles -
der engste Kampfgenosse des Ephialtes - in den Vordergrund
der attischen Politik. Er wird immer wieder zum Strategen
gewählt, von ihm stammen die bedeutendsten politischen
Initiativen.
Perikles wurde Jahr für Jahr (mit wenigen Ausnahmen)
zu demjenigen Strategen gewählt, dessen Kandidaten
aus der ganzen Bürgerschaft genommen wurden. Diese
merkwürdige Institution gab es erst seit der Abwertung
des Archontats; sie war eine Surrogatlösung der
unvermeidlichen Aufgabe, den bestimmenden Politiker
im Rahmen einer Verfassung zu etiquettieren, welche
diesen Posten nicht vorgesehen hatte. Denn die zehn
Strategen, eine alte Einrichtung, waren ausschließlich
militärische Kommandanten und mußten aus
Gründen der Parität jeweils den zehn einzelnen
Phylen entstammen. Nur bei einem von ihnen hatte das
Volk die Möglichkeit der freien Wahl, und wen
es als solchen bestimmte, der galt als verantwortlicher
Staatsmann. Was er in der Volksversammlung durchsetzte,
beantragte er im Grunde als einfacher Bürger.
Durch seine Wahl war ihm lediglich als tatsächliche
Chance in Aussicht gestellt, daß die Versammlung
ihm gegebenenfalls auch folgte, und jedes Jahr stand
es ihr bei der Strategenwahl frei, dieses indirekte
Mandat zurückzuziehen.
Bis 443 war Perikles allerdings noch nicht der unbestritten
führende Mann. Ihm gegenüber stand der Sohn
des Melesias, der ebenfalls Thukydides hieß.
443 wurde dieser ostrakisiert.
Fortan leitete Perikles den attischen Staat als Exponent
einer durch den Umsturz radikalisierten Demokratie.
Von 443 bis 429 wurde Perikles alljährlich zum
Strategen gewählt.
Er scheint ein wahrhaft überragender Politiker
seiner Zeit gewesen zu sein. Meier beispielsweise überschüttet
ihn mit Lob: Sein Geschick, seine Rednergabe, sein
souveräner Verstand, seine Urteilskraft, nicht
zuletzt die bemerkenswerte Selbstdisziplinierung, die
Unbestechlichkeit, die Unbedingtheit, mit der er sich
in den Dienst der demokratischen Polis stellte - dies
alles zusammen hat Perikles gewiß einen weiten
Vorsprung vor allen möglichen Rivalen gegeben.(20)
Dennoch war sein Ansehen und seine Autorität so
unbegrenzt, daß es bei Thukydides in einem berühmten
Ausspruch dagegen heißt, Athen wäre damals
dem Begriff nach wohl eine Demokratie gewesen, in Wirklichkeit
hätte es unter der Herrschaft des ersten Mannes
gestanden.
Um sich von bedrängenden innenpolitischen Themen
zu entlasten, verwickelte Perikles Athen in außenpolitische
Konflikte. Seit 432/31 befanden sich Athen und Sparta
im Kriegszustand. Als die Feinde Athens attisches Land
verheerten und unter der in der Stadt zusammengepferchten
Bevölkerung die Pest ausbrach, wuchs die Opposition
gegen Perikles. Verurteilt wegen Amtsmißbrauchs
verlor er sein Strategenamt, wurde jedoch 429 wieder
in diese Stellung gewählt. Er starb noch im gleichen
Jahr.
2.6.2. Inhalt der Verfassungsreform
Die entscheidenden Verfassungsprinzipien auf dem Weg
zur Demokratie sind im Grunde schon vor Perikles herausgestellt
worden. Doch in seiner Zeit wurde in dieser Entwicklung
nicht nur das letzte überhaupt denkbare Stadium
erreicht, sondern es stellte sich auch das Bewußtsein
ein, daß Athen mit der Demokratie die ihm eigentümliche
politische Form gefunden habe.
Die Reformen von Ephialtes und Perikles führen
ab 462 zur demokratischen Ordnung Nun geht auch die
exekutive Macht auf die Bürger in der Volksversammlung
über.
Das Hauptstück ihrer Verfassungsreform war die
politische Ausschaltung des Areopags. Es war viel,
daß man ihn nicht völlig abschaffte und
ihm als Rest seiner alten Zuständigkeit wenigstens
die Blutgerichtsbarkeit ließ. Aber in der Politik
hatte er nichts mehr zu suchen, seine Aufsicht über
die Legislative entfiel. Das Volk war praktisch unbeschränkter
Herr über sie. Die andere Maßnahme: wo bisher
innerhalb der demokratischen Institution sich noch
der Einfluß der vermögenden Kreise bemerkbar
machen konnte, da wurde er eliminiert. Dies betraf
alle Ehrenämter, deren Zeitaufwand die finanzielle
Abkömmlichkeit erforderte. Darunter fielen vor
allem eine Menge Verwaltungsstellen, der Rat und die
Gerichtshöfe. Von Staats wegen erhielt jetzt jeder
durch den Empfang von Diäten auch die tatsächliche
Fähigkeit, von seinem Recht, diese Posten zu bekleiden,
Gebrauch zu machen.
Mit der Institution des Archontats hatte man schlechte
Erfahrungen gemacht. Herrschen und beherrscht werden
sollte in einer Hand liegen. Obrigkeitliche Macht wurde
weitgehend abgebaut, weshalb auch die Amtsgeschäfte
weit ausdifferenziert wurden. Außer für
die Finanzverwaltung, für die eine bestimmte Vermögensqualifikation
vorgesehen war (tatsächliche Durchführung
der Haftung für Fehler und Veruntreuungen!), besaß
das Los die fundamentale Rolle im attischen Staatswesen.
Auch das Archontat wurde der Mittelklasse der Zeugiten
zugänglich gemacht. Nur bei der Bestallung der
militärischen Kommandanten, den Strategen, wurde
dem qualitativen Urteil durch Wahl Raum gegeben. Jeder
Bürger war berechtigt, in der Volksversammlung
Anträge zu stellen.
Dasjenige Organ, welches die Geschäftsfähigkeit
der Volksversammlung (ekklesia) erst ermöglichte,
war der Rat der Fünfhundert (boulé). Er
hatte für die Vorbereitung der Beschlüsse
Sorge zu tragen; Anträge mußten im allgemeinen
ihm eingereicht werden. Seine Mitglieder wurden durch
das Los berufen, je fünfzig aus jeder Phyle.
Die attische Demokratie war ihrem idealen Grundriß
nach, wie er sich klar vor allem aus dem späteren
Ausbau im 4. Jahrhundert ergab, geradezu von dem Gedanken
besessen, ihre innere Stabiltät zu sichern und
den Zufall momentaner Einfälle und Gefühlsregungen
auszuschalten. Der schier unbegrenzten Freiheit der
Initiative stand ein System regressiver Kontrollen
gegenüber. Jeder Politiker, der in der Volksversammlung
die Leute hinter sich brachte, stand unter dem Damoklesschwert
einer später folgenden Anklage, daß er mit
seinem Antrag entweder gegen die Gesetze verstoßen
habe oder, ganz allgemein, sein von der Ekklesia angenommener
Vorschlag nichts tauge oder er sich gar gegen die Demokratie
vergangen habe; und selbst wenn er noch gar keinen
Beschluß durchgesetzt hatte, konnte er für
die Richtung seiner Politik, die er durch seine Reden
und sein öffentliches Auftreten vertrat, vor Gericht
gezogen werden.(21)
Durch alles dies entwickelte sich eine starke Politisierung
der Massen, die allerdings bereits ein Werk des Kleisthenes
war. Die Aufhebung der sozialen Schranken zur tatsächlichen
Verwirklichung erfolgte aber erst mit der Einführung
von Diäten (misthós). Perikles führte
die ersten Zahlungen, nämlich die für Richter
und Ratsherren, wohl auch schon für etliche Beamte
ein. Der in der Demokratie selbstverständliche
Soldatenlohn ist aber einige Jahrzehnte älter
als die entwickelte Demokratie.
Die Voraussetzungen für diese Entwicklung lagen
in dem gesteigerten Selbstbewußtsein der ärmeren
Schicht sowie in der Tatsache, daß erst das reicher
gewordene Athen die finanziellen Mittel dafür
aufbringen konnte.
Mit Ausnahme der Zahlung von Tagegeldern waren alle
Verfahrensformen der Demokratie (z.B. Losverfahren,
Prüfung der gelosten oder gewählten Beamten,
Rechnungslegung während und nach dem Amt) schon
in vordemokratischer Zeit bekannt, aber erst in der
Demokratie werden sie zur Absicherung des demokratischen
Gedankens voll entwickelt und können seitdem als
für sie typische Einrichtungen gelten.(22)
2.6.3. Einordnung der attischen Demokratie zur Zeit des Perikles
Wohl nirgends sonst sind die kleinen Geschichten des
Alltags und die großen der Politik und der Weltpolitik
so eng verquickt gewesen wie im damaligen Athen.
Die Stadt und ihre Häfen war zu dieser Zeit voll
von Interessantem, Kurzweiligem und Erregendem: Politik-
und Kriegsgeschehen, den langfristigen Vorhaben und
Planungen, den neuen Thesen, Behauptungen und Entdeckungen
sowie eine lange Reihe von Festen. Indem Athen die
reichen Möglichkeiten der Griechen aufnahm und
beträchtlich steigerte, wurde es zur Schule von
Griechenland. Perikles weist bei Thukydides darauf
hin, daß Athen seine politische Form selbst entwickelt
habe, nicht von andern gelernt, sondern eher ein Vorbild
für andere. So als ob letztlich auch die Ordnung
aus dem eigenen Boden gewachsen wäre.(23)
Pseudoxenophon schreibt in seiner Abhandlung Über
die Verfassung der Athener, daß diese Verfassung
zwar schlecht, aber in Hinsicht auf die Interessen
der niederen Schichten zweckmäßig eingerichtet
sei; und zwar nicht nur die Verfassung im engeren Sinne,
sondern das gesamte System der Stadt. Nach seiner Darstellung
scheint es so, als habe im übrigen Griechenland
weithin noch das Ideal einer aristokratisch dominierten
Verfassung, der Eunomie, gegolten. Nach Pseudoxenophon
fragte man sich, warum die Athener so töricht
waren, sich nicht nach der Rechtschaffenheit und Weisheit
der Adligen zu richten. Er sah die Antwort darin, daß
das Volk von Athen primär seinen eigenen Nutzen
im Auge habe. Es höre lieber auf Ungebildete und
Gemeine, wenn sie nur auf seiner Seite stünden.(24)
Perikles verteidigte die Demokratie damit, daß
in privaten Streitigkeiten jeder das gleiche gelte;
die allgemeine Wertschätzung, die sich am Gemeinwesen
orientiere, unterscheide nicht nach Hoch und Niedrig,
sondern nach dem Mannestum, der Tugend (areté)
des Einzelnen. Auch wenn er arm ist, sei er durch die
Unscheinbarkeit seines Ranges nicht gehindert, der
Stadt gute Dienste zu erweisen.
So wurde die areté sozusagen demokratisiert,
oder besser politisiert, nämlich ganz auf die
Polis bezogen. Eine neue Aristokratie entstand, in
der auch die kleinen Leute ihren Platz hatten.(25)
Die attische Demokratie folgte v.a. zwei Grundsätzen:
Erstens sollten alle Entscheidungen möglichst
in der Öffentlichkeit, aufgrund öffentlicher
Diskussion, gefällt werden, und zwar jeweils vom
größtmöglichen Gremium. Zweitens sollten
die Bürger, soweit es ging, an der Politik, auch
an den Ämtern beteiligt sein. Es sollte grundsätzlich
Organisation von Einfluß, Manipulation von kleinen
Kreisen nicht stattfinden.
2.6.3.1. Demokratische Neuerungen
Mit der Erkenntnis, daß Souveränität
unteilbar ist, hat kaum ein antiker Staat konsequenter
Ernst gemacht als der attische. Eine seiner charakteristischsten
Einrichtungen ist aus diesem Grundsatz hervorgegangen:
die Geschworenengerichtshöfe.
Wer die Vision verfolgt, Staat und Gesellschaft ließen
sich zur Deckung bringen, wird den Athenern jener Zeit
nicht die Anerkennung versagen, sie hätten es
in dieser Hinsicht vielleicht weiter gebracht als jemals
ein Volk in der Weltgeschichte. Im Zusammenhang hiermit
steht auch, daß zwei Begriffe ins Zentrum der
Überlegungen gelangten: die Gleichheit (oder Gleichberechtigung:
isonomía und isegoría) sowie die Freiheit.
V.a. Perikles stellte die Freiheit in den Mittelpunkt:
Die Erziehung war freizügig, so erfolgte die Vorbereitung
auf den Kriegsdienst nicht, wie in Sparta, ein Leben
lang und in aller Strenge, sondern gleichsam ungezwungen,
ganz nach Bedarf.
Auf der anderen Seite ist den Athenern hoch anzurechnen,
daß sie jeden Verfassungsbruch unter strenge
Strafe stellten.
Die ohne jeden Zweifel größte Leistung der
athenischen Demokratie liegt in der Verwirklichung
einer Gesellschaft von politisch gleichberechtigten
Bürgern. Ein solches Ausmaß an Öffentlichkeit
ist bis auf den heutigen Tag nicht wieder erreicht
worden und auch nicht mehr zu verwirklichen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, daß das
Initiativrecht bei allen Athenern lag. Jeder Athener
konnte nicht nur über die ihm vorgelegten Anträge
abstimmen, sondern auch von sich aus einen Antrag einbringen.
Der Volksbeschluß ist hier also in einem echten
Sinne Wille der Athener.
2.6.3.2. Defizite
a.) Einige für den heutigen demokratischen Staat
unentbehrliche Elemente fehlten im Verfassungsplan
der athenischen Demokratie: das Repräsentativsystem,
die Institutionalisierung der Regierungsfunktionen
sowie die Gewaltenteilung. Gerade durch das Fehlen
der Gewaltenteilung ergaben sich auch eine Reihe von
Nachteilen. So kam es aufgrund der Tatsache, daß
z.B. in den Gerichten das Volk saß, zu häufigen
Fehlurteilen, keiner empirisch-rationalen Ausbildung
des Rechts sowie zu emotionalen Urteilen nach Gutdünken.
b.) Wenn man den tatsächlichen Umfang des Personenkreises
(demokratische Masse) darstellen möchte, der letztlich
aktiver Träger der Demokratie war, so kommt man
auf eine Minderheit von 10.000 Männern über
dreißig Jahre (entspricht rund 3 %). Von insgesamt
300.000 Bewohnern Attikas waren 25.000 Metoiken (Fremde),
80.000 Sklaven, 150.000 Frauen. Kinder sowie junge
Männer bis dreißig. Von den verbleibenden
45.000 war der größte Teil außerhalb
der Stadt und die Bauern blieben zumeist sowieso außen
vor, denn ihre Arbeit duldete keine Abwesenheit, andererseits
war der Weg in die Stadt oft zu weit.
c.) Letztlich hatte sich die alte Elite wieder durchgesetzt:
auch die demokratischen Politiker waren stets Angehörige
des alten Adels. Er besaß nach wie vor größere
Ressourcen an Zeit und Geld und beherrschte aufgrund
einer höheren Bildung eine bessere Rhetorik. Aus
diesem Grunde stellte die Nachwelt dem attischen Staat
auch alles andere als ein eindeutig positives Urteil
aus.
d.) Trotz aller Gesellschaftsentwürfe blieb auch
die Gesellschaftsordnung im wesentlichen unverändert.
Kein Gedanke auch nur, man könne - oder solle
- die Sklaverei abschaffen. Die politische Form der
Polis wollte sowieso keiner antasten.
e.) Während im Innern Athen demokratisch war, übte
die allerfreieste Stadt der Griechen eine Tyrannis
über die andern Städte aus. Aus diesem Grund
trug die athenische Demokratie auch bereits den Keim
für ihren Zerfall in sich.
3. Schlußfolgerungen
Zunächst ist festzuhalten, daß die Demokratie
nicht das Produkt einer politischen Theorie war, sondern
der besonderen Umstände der athenischen Geschichte
des 6. Und 5. Jahrhunderts.
Athen hat darüber hinaus auch über weite Strecken
keine isolierte Entwicklung genommen. Am Anfang stand
die Krise der Adelswelt, an der mehr oder weniger alle
Griechen Anteil hatten. Die besondere Art und Weise,
in der in Athen die Probleme angepackt und zu lösen
versucht wurden, ging dann allerdings doch einen anderen
Weg als in den übrigen griechischen Städten.
Dies hängt u. a. auch mit der Person zusammen,
der die Bewältigung der Krise anvertraut wurde:
Solon.
Dennoch hat Meier m.E. zu sehr auf die führenden
Strategen als die allein Verantwortlichen für
den politischen Sonderweg Athens abgestellt. Man hat
jedoch heute von der Vorstellung auszugehen, daß
ein grundlegender Wandel des politischen Bewußtseins
niemals und nirgendwo dem schöpferischen Geist
eines staatsmännischen Genies verdankt wird, sondern
die Konsequenz eines in aller Regel sehr komplexen
Wandels der allgemeinen politischen und sozialen Lebensbedingungen
der Menschen ist, und zumal ein Phänomen wie die
Demokratie, die in ihrer einzigartigen Besonderheit
einen Umbruch des ganzen politischen Denkens verlangte,
nur aus einem vielschichtigen Bedingungsgefüge
heraus hervorgegangen sein kann.(26)
Aber es ist sicherlich auch menschlicher Gestaltungswille
am Werk gewesen, kein Wille zur Demokratisirung zwar,
aber doch ein Wille zur Beteiligung der Menschen am
politischen Geschehen.
So ist jedem der erwähnten zentralen Akteure (
Solon, Kleisthenes, Ephialtes, Perikles) ein Anteil
an der Entwicklung zur Demokratie zuzurechnen. Aber
auch andere trugen entscheidend dazu bei. So trieb
sogar die Tyrannis des Peisistratos die Demokratie
voran und Leute wie Themistokles legten mit einzelnen
Entscheidungen (hier: Flottenbau) den Grundstein für
das Aufblühen der Demokratie.
Es darf auch nicht vergessen werden, daß die räumliche
Größe Attikas und die Menge seiner Bewohner
den Demokratisierungsprozeß mitbestimmt haben.
Im Gegensatz zu anderen politischen Einheiten im Griechenland
jener Zeit war Athen zudem eine Stadt. Vor allem ist
hier der Name Kleisthenes zu nennen: Er hat es verstanden,
die große Landschaft zu einer Polis zu konzentrieren.
Ohne die Einheit von Landschaft und Stadt wäre
die politische Dynamik der Masse unmöglich gewesen.
Die entscheidende Kraftquelle der politischen Aktivität
ist (allerdings) woanders zu suchen; sie gehört
schon in die Anfänge der Demokratie; ja sie war
der eigentliche Motor für die Entstehung der neuen
Verfassung gewesen. Sie liegt in der Entdeckung des
Politischen als eines für alle freien Raumes der
Betätigung, und sie war deswegen eine weit in
die Zukunft wirkende Kraft, weil zugleich mit ihr sich
ein ungeahnter politischer Erfolg einstellte: der Sieg
über die Perser bei Marathon, die Überwindung
sogar des Großkönigs bei Salamis und die
Schaffung des gewaltigen Seebundes, der größten
Staatengemeinschaft, welche die Griechen je sahen.(27)
Das daraus resultierende kollektives Selbstbewußtsein
begegnet uns in der griechischen Antike sonst nur noch
in Sparta in so ausgeprägter Form.
Hieraus ergeb sich auch erst ein neuer Spielraum: Durch
die Finanzen des Seebundes konnten Diäten gezahlt
werden, wodurch die Vermassung der Politik erst möglich
wurde.
Abschließend möchte ich die Frage Meiers
Athen: Ein Neubeginn der Weltgeschichte? Mit einem
eindeutigen Ja beantworten. Die Entscheidung aber,
ob die Demokratisierung in Athen ein zielgerichteter
Prozeß oder nur eine Kette historischer Stationen
war, kann so nicht getroffen werden: Für die Zielgerichtetheit
fehlte die politische+- Theorie, aber eine - scheinbar
zufällige - Aneinanderkettung von Ereignissen
schließt sich allein durch die bewußt handelnden
Akteure aus. So ist m.E. die politische Entwicklung
im klassischen Athen eine durch Empirie und Intervention
kanalisierte Zwangsläufigkeit.
Anmerkungen:
(1) vgl. Bleicken, Jochen. Die athenische Demokratie.
S. 24
(2) Heuss, Alfred. Hellas. S. 163.
(3) nach ebd. S. 165.
(4) Heuss, Alfred. a.a.O. S. 166.
(5) Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 27.
(6) Aus neun Archonten bestand das höchste Regierungsgremium
Athens.
(7) Heuss, Alfred. a.a.O. S. 171.
(8) vgl. Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 29.
(9) ebd. S. 20.
(10) vgl. Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 39.
(11) Heuss, Alfred. a.a.O. S. 239.
(12) ebd. S. 240.
(13) Meier, Christian. Athen: Ein Neubeginn der Weltgeschichte.
S. 308.
(14) Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 61.
(15) vgl. Meier, Christian. a.a.O. S. 343.
(16) Meier, Christian. a.a.O. S. 333.
(17) ebd. S. 359.
(18) ebd. S. 387.
(19) vgl. ebd. S. 388 f.
(20) Meier, Christian. a.a.O. S. 423.
(21) Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 274.
(22) vgl. Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 312.
(23) vgl. ebd. S. 462.
(24) vgl. ebd. S. 464.
(25) vgl, ebd. S. 477.
(26) Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 20.
(27) ebd. S. 396.
Literaturverzeichnis
Bleicken, Jochen. Die athenische Demokratie. Paderborn u.a.: Schöningh, 1994 (2. Aufl.)
Heuß, Alfred. Hellas. In: Mann, Golo; Heuß, Alfred (Hg.). Propyläen Weltgeschichte. Dritter Band. Griechenland - Die hellenistische Welt, S. 69 - 400.
Meier, Christian. Athen: Ein Neubeginn der Weltgeschichte. Berlin: Siedler, 1993.